KURZDARMSYNDROM: Im Leben von Menschen mit Kurzdarmsyndrom gehören Ernährungstherapien, begleitet von hochdosierten Antidiarrhoika und Pankreasenzymen zum „Standardprogramm“. Denn wenn große Teile des Dünndarms fehlen, können lebenswichtige Nährstoffe, Elektrolyte und Flüssigkeit nicht mehr ausreichend resorbiert werden. Und das hat weitreichende Konsequenzen.
TEXT: MAG. PHARM. IRENE SENN, PHD
Dr. Manfred Nagl ist Vorstandsmitglied der „Chronischen Experten“ und selbst vom Kurzdarmsyndrom betroffen.
Etwa 300 bis 400 Menschen leiden in Österreich an einem Kurzdarmsyndrom, auch Kinder und Jugendliche sind häufig betroffen. Meist entsteht ein Kurzdarmsyndrom in Folge einer chirurgischen Entfernung von Teilen des Dünndarms. „Diese Leute haben oft einen langen Leidensweg hinter sich“, berichtet Dr. Manfred Nagl der ÖAZ im Gespräch. Und er weiß, wovon er spricht. Nagl hat in seinem Leben bereits einige schwere gesundheitliche Herausforderungen gemeistert, darunter die Diagnose Morbus Crohn im Alter von 15 Jahren. Es folgten zahlreiche Darmoperationen; an seinem 29. Geburtstag erhielt er sein Colostoma. Diese Erfahrungen haben ihn stark in seinem beruflichen Engagement und Verständnis für chronische Erkrankungen geprägt. Seit 2018 ist er als Vorstand bei den „Chronischen Experten“
Die häufigsten Gründe, die eine operative Entfernung von Dünndarmabschnitten erforderlich machen, sind:
Aber nicht jede Darmresektion hat ein Kurzdarmsyndrom zur Folge. Die Auswirkungen eines verkürzten Dünndarms sind maßgeblich davon abhängig, welche genauen Darmsegmente entfernt wurden, wie lange der verbleibende Darm ist und – wichtiger noch – wie es um seine Funktionalität steht.
Der Darm hat eine sehr gute Regenerationsfähigkeit und die Funktion von fehlenden Darmabschnitten kann oft ganz bzw. teilweise durch andere Abschnitte ersetzt werden. Die Anpassung nach einer Operation verläuft in drei Phasen (siehe DOWNLOAD PDF | Kasten 2,
S. 70) „In der ersten Zeit nach einer Darmresektion haben viele Betroffene ein wahnsinnig großes Durstgefühl und trinken bis zu elf Liter am Tag, die allerdings oft unverändert wieder ausgeschieden werden“, berichtet Nagl. Sind die Adaptionsvorgänge abgeschlossen, sieht man, wie viel Eigenleistung der Darm noch hat. „Besser wird es dann nicht mehr“, macht Nagl deutlich. „Aber sobald das individuelle Therapie-Setting gefunden ist, kann man eigentlich ein ziemlich normales Leben führen. Manche Patient:innen kommen dann auch wieder ganz von der parenteralen Ernährung weg, benötigen sie nur noch einmal pro Woche oder nur stoßweise in Zeiten mit mehr Stress.“
Kann der verbleibende Darm nach Abschluss dieser Anpassungsprozesse jedoch nicht mehr ausreichend Nährstoffe und Flüssigkeiten resorbieren, hat das weitreichende Konsequenzen. Unbehandelt führt das Kurzdarmsyndrom zu schweren Mangelzuständen und einer ganzen Reihe von Sekundärerkrankungen, darunter:
Leider bleibt eine Malabsorption aber oft unentdeckt. „Unter Chirurg:innen gibt es zum Teil wenig Erfahrung über die weitreichenden Folgen eines Kurzdarmsyndroms. Zudem wird die verbleibende Dünndarmlänge selten gemessen bzw. ist dies auch nur schwer möglich“, so Nagl.
„Der Best-Case wäre natürlich, dass nach einer Darmoperation dokumentiert wird, dass nur noch wenig Dünndarm vorhanden ist und das Kurzdarmsyndrom in der Patientenakte vermerkt wird. In der Realität passiert das aber nur in einigen wenigen Universitätskliniken“, berichtet Nagl von seinen Erfahrungen. Auf Kurzdarmsyndrom spezialisierte Zentren finden sich bislang in Wien, Salzburg, Graz und in Kürze auch in Bregenz.
Die Behandlung des Kurzdarmsyndroms zielt darauf ab, die Nährstoffaufnahme zu maximieren und die künstliche Ernährung (parenteral oder enteral) so weit wie möglich zu minimieren. Zudem können Symptome gelindert und Komplikationen verhindert werden. Substitution von Makronährstoffen In der ersten Zeit nach einer ausgedehnten Darmresektion ist praktisch immer eine parenterale Ernährung erforderlich, da nur so der Mangel an Flüssigkeit und Makronährstoffen (Kohlenhydrate, Proteine, Fett) substituiert werden kann.
Oft kann diese auch zu Hause gemacht werden. „Die individuelle Zusammensetzung wird von Diätolog:innen in Zusammenarbeit mit dem/der Internist:in verordnet. Die Betroffenen lernen mit der Zeit, sich das Setting für zu Hause selbst zusammenzustellen und erhalten auch eine Einschulung, vor allem in Hinblick auf steriles Arbeiten“, so Nagl. Schulungsvideos zu diesem und anderen Themen finden sich auf der Website der „Chronischen Experten“.
Die fehlenden Vitamine und Mineralstoffe können der parenteralen Ernährung zugesetzt werden. Hierzu sind Pulver bzw. Emulsionen zur Infusion im Handel, mit denen der Tagesbedarf an
Manchmal können aber andere Darmabschnitte diese Aufgabe übernehmen.
Die Aufnahme von Wasser im Dünndarm erfolgt hauptsächlich passiv entlang eines osmotischen Gradienten. Isotone Getränke (welche eine ähnliche Konzentration an gelösten Teilchen haben wie Körperflüssigkeiten) ermöglichen eine schnelle und effiziente Flüssigkeitsaufnahme, was v. a. bei eingeschränkter Darmfunktion enorm wichtig ist.
„Viele im Supermarkt erhältlichen isotonen Getränke sind jedoch für Kurzdarm-Patient:innen nicht optimal, bspw. weil Zuckerersatzstoffe enthalten sind“, gibt Nagl zu bedenken. „Wir arbeiten deshalb aktuell mit der Firma Knauer Wissenschaftliche Geräte GmbH in Deutschland an einem Projekt, in welchem wir die Osmolarität verschiedener gängiger Getränke bestimmen.
Ziel ist es, eine Trinkflasche mit Graduierungen zu entwickeln. Damit könnten die Patient:innen zukünftig durch Mischen entsprechender Säfte mit Leitungswasser ganz einfach selbst isotone Getränke herstellen.“
Loperamid ist für Kurzdarmpatient:innen quasi Standardmedikation und üblich sind hier durchaus hohe Dosierungen von 2-2-2-2.
„Hilfreich ist die Empfehlung, die Kapsel zu öffnen und das Pulver direkt auf das Essen zu streuen“, weiß Nagl aus seiner Erfahrung zu berichten. So kann man sichergehen, dass der Wirkstoff besser resorbiert wird. Eine Alternative sind Schmelztabletten.
Die zweite Standardmedikation praktisch aller KDS-Patient:innen sind Pankreasenzyme (Pankreatin), die zumindest 20 Minuten vor jeder Hauptmahlzeit eingenommen werden sollten. „Oft bräuchte man ein Drehbuch für die gesamte Medikation. Einfacher ist es auch hier, die Kapseln zu öffnen und über das Essen zu streuen.
Grundsätzlich muss bei jeder Medikation bedacht werden, dass der Wirkstoff in einem so stark verkürzten Darm überhaupt eine Chance hat, resorbiert zu werden“, gibt Nagl zu bedenken.
Das GLP-2-Analogon Teduglutid ist die erste und bislang einzige spezifische pharmakologische Therapie, die in der EU für Patient:innen mit Kurzdarmsyndrom zugelassen ist. Die Fachinformation empfiehlt, die Behandlung etwa sechs Monate nach der Dünndarmresektion zu beginnen, nachdem die intestinale Adaption abgeschlossen ist und die Patient:innen sich in der stabilen Phase befinden.
Teduglutid regt das Wachstum der Darmzotten an und vergrößert damit die Resorptionsfläche, was zu einer Verbesserung der Nährstoff- und Flüssigkeitsaufnahme führt. Die Menge an parenteraler Ernährung lässt sich dadurch oft reduzieren, im besten Fall sogar völlig absetzen.
Für Apotheker:innen besonders wichtig: Auch die Pharmakokinetik von oral eingenommenen Arzneistoffen kann sich verändern und sollte engmaschig überwacht werden – dies betrifft insbesondere Antikoagulanzien, Immunsuppressiva und Schilddrüsenhormone. Teduglutid muss täglich und lebenslang subkutan in einer Dosierung von 0,05 mg/kg KG im Sinne einer „Hormonersatztherapie“ appliziert werden.
Wird das Präparat abgesetzt, dann bilden sich auch die Darmzotten wieder zurück. „Das geht recht schnell innerhalb von zwei bis drei Tagen“, so Nagl. Die Therapie ist sehr kostenintensiv; in der Regel werde es laut Nagl aber bewilligt.
Aktuell befinden sich weitere GLP-2-Analoga in klinischer Entwicklung, darunter Glepaglutid und Apraglutid, die im Vergleich zu Teduglutid eine längere Halbwertszeit aufweisen und damit nur mehr 2 x bzw. 1 x wöchentlich injiziert werden müssten.
Ein anderer vielversprechender Forschungsansatz ist die Entwicklung von Wirkstoffen mit dualer Aktivität an GLP-1 und GLP-2-Rezeptoren. Dapiglutid hat hier bereits vielversprechende Ergebnisse im Mausmodell gezeigt.
Unter der Federführung der ÖGGH (Österreichische Gesellschaft für Gastroenterologie und Hepatologie) arbeiten derzeit Ärzt:innen aus namhaften Universitätskliniken an den ersten österreichischen Leitlinien zur Behandlung des Kurzdarmsyndroms. Die „Chronischen Experten“ sind ebenfalls involviert, um die Patientenperspektive einzubringen.
Die Veröffentlichung ist für die erste Jahreshälfte 2024 geplant.
Quelle: Österreichische Apothekerzeitung (ÖAZ), 04/2024, S. 64 – 70 | DOWNLOAD Artikel (PDF)